Altn Maxklinger Spaziergaenger Ausschnitt Minimum

Max Klinger (1857 – 1920)

Spaziergänger (Der Überfall), 1878

Ein Werk, viele Titel

Das Bild besitzt mehrere Titel: „Die rote Mauer“ nennt es Klinger in einem Brief an seine Eltern, womit er sich auf die rein malerische Gestaltung bezieht, denn der harte Dreiklang von Rot, Grün und Blau ist damals gewagt. Die Farben sind alle gleich einförmig und ereignislos angelegt: kein Licht modelliert Mauer, Wiese und Himmel, der Farbauftrag bleibt plakativ flach. „Spaziergänger“ lautet der ursprüngliche ­– wohl ironisch gemeinte – Ausstellungstitel, und ein weiterer „Der Überfall“. Klinger versucht auch, das Gemälde unter dem Titel „Cerné, Umzingelt“, beim Pariser Salon einzureichen. Darin deutet sich das eigentliche Thema des Bildes an: die Angst in einer ausweglos scheinenden Situation.

Max Klinger (1857 – 1920)

Spaziergänger (Der Überfall), 1878

In die Enge getrieben

Vor einer kahlen, hellrot leuchtenden Mauer steht, buchstäblich mit dem Rücken zur Wand, ein gut gekleideter junger Mann mit Melonenhut. Er ist umzingelt von vier mit Stöcken bewaffneten Ganoven. Einer von ihnen hebt gerade noch einen Stein auf, den er als Waffe benutzen will. Der junge Mann hat zu seiner Verteidigung einen Revolver gezogen, eine damals neue amerikanische Erfindung. Der Vorgang könnte einem Zeitungsbericht oder einem Kolportageroman entnommen sein.

Max Klinger (1857 – 1920)

Spaziergänger (Der Überfall), 1878

Offenes Ende

Das Bild wirkt wie im Moment gefroren, die Figuren halten in der Bewegung inne. Die beklemmende, ausweglose Situation steht an einem Wendepunkt. Es stellen sich zahlreiche Fragen: Was wird geschehen? Wird es zu Gewalttätigkeiten kommen? Aus welchen Motiven? Es gibt viele Indizien, aber keine Sicherheit. All dies wird man in den Bildern surrealistischer Malerei wiederfinden.

Max Klinger (1857 – 1920)

Spaziergänger (Der Überfall), 1878

Unheimliche Stille

Der Schauplatz des Geschehens ist schwer zu bestimmen. Möglicherweise zeigt Klinger eine vollkommen einsame Gegend am Rande einer Stadt. Es ist eine baumlose Ödnis: einstiges Bauernland wurde der Bauspekulation der Gründerjahre preisgegeben, die es bisher jedoch nur verunstaltet hat. Die lange rote Mauer verwehrt den Blick zum Horizont und begrenzt den Bildraum, der jedoch gleichzeitig durch die großen Abstände zwischen den einzelnen Figuren seltsam leer wirkt. Es herrscht eine unheimliche Stille.

Max Klinger (1857 – 1920)

Spaziergänger (Der Überfall), 1878

"Der moderne Künstler schlechthin"

Das Werk zieht seinen Reiz aus seiner rätselhaften, ja irritierenden Qualität. Für Giorgio de Chirico verkörpert Max Klinger „den modernen Künstler schlechthin“, der „wachen Auges in die Vergangenheit, in die Gegenwart und in sich selbst blickt“. Berühmt wird Klinger später durch seine Radierzyklen und die oft mehrfarbigen Skulpturen. Sein Werk ist dem Symbolismus und dem Jugendstil zuzurechnen.