Gonzalès malt auf diesem Bild ihre Schwester, kurz nach dem Erwachen, mit noch verträumtem Blick. Es ist nicht außergewöhnlich, dass weibliche Malerinnen Modelle in ihrem Familien- und Freundeskreis finden. Dies entspricht ihrer Lebensrealität, denn sie können sich in der Öffentlichkeit nicht so frei bewegen wie ihre männlichen Kollegen. Gonzalès malt ihre Schwester mehrfach.

1879 heiratet Eva Gonzalès den Maler und Radierer Henri-Charles Guérard, ebenfalls ein Freund von Manet. Vier Jahre später stirbt sie kurz nach der Geburt ihres Sohnes. Ihr Mann heiratet später ihre Schwester Jeanne, die auf diesem Gemälde Erwachendes Mädchen zu sehen ist. Auch Jeanne hat eine künstlerische Ausbildung von ihren Eltern ermöglicht bekommen.

Auffällig ist die variationsreiche Malweise des Bildes: Das Nachtschränkchen, das Gesicht des Mädchens und ihr glänzender Armreif sind sehr detailliert dargestellt. Die Stoffe hingegen sind mit breiten, schnellen Pinselstrichen gemalt. Die freie, skizzenhafte Handschrift der Künstlerin zeigt sich auch an den Konturen der Decke und des Vorhangs, die sie mit einem breiten blauen Pinselstrich umreißt.

Die zarte Haut des Mädchens und ihr schwarzes Haar heben sich lebendig gegen das Weiß in Weiß der Stoffe und den kleinen Tisch am Bett ab. Das Gemälde Erwachendes Mädchen wurde von den Kritikern als eine Symphonie in Weiß gelobt. Die lichte Farbgebung und der weiche Pinselstrich zeigen Gonzalès‘ Nähe zur Malerei der Impressionisten.

Zu diesem Gemälde gibt es ein skizzenhaftes Pendantbild, das sich in Privatbesitz befindet. Es zeigt Jeanne in identischer Pose, diesmal jedoch mit geschlossenen Augen beim Schlafen. In seiner Farbigkeit ist das Pendant zurückhaltender und der Nachttisch ist durch einen Stuhl ersetzt.