Ki Emilnolde Lesendedame Minimum

Emil Nolde (1867–1956)

Lesende Dame, 1906

Ehefrau und Muse

Die Dargestellte im weißen Kleid scheint nicht wahrzunehmen, dass der Maler sie betrachtet und dabei skizziert. Die tief in ihr Buch versunkene Frau ist keine Unbekannte: Es ist Ada Nolde, Emil Noldes „vielgeliebte“ Ehefrau und eifrige Unterstützerin. Er lernte die Dänin Adamine Frederikke Vilstrup kennen, als er den Sommer 1901 in Dänemark verbrachte. Seitdem malte er sie häufig in Öl, als Aquarell, Lithografie oder Kaltnadelradierung. Zwei Jahre nach der Entstehung der Lesenden Dame fasste er die Szenerie im üppigen Blumengarten in den Gemälden Blumengarten, Frau im weißen Kleid en face und Blumengarten mit Figuren wiederholt in Öl auf Leinwand.

Emil Nolde (1867–1956)

Lesende Dame, 1906

Lichtstimmung

Trotz ihrer Erwähnung im Titel steht die lesende Dame nicht im Mittelpunkt des Gemäldes. Eingebettet in ein geradezu wildes Geflimmer aus bunten, sich kreuzenden Pinselstrichen und in warmes Sonnenlicht getaucht, erscheint sie in ihrem langen weißen Kleid beinahe wie eine Lichtgestalt. Nolde setzt die Figur nur dezent vom Hintergrund ab. Dick aufgetragene Farbstriche breiten sich flächig und ornamental über die gesamte Leinwand aus und erzeugen einen ausgesprochen lebendigen, jedoch flachen Raumeindruck. Nolde deutet mit wenigen Bildelementen wie der Bauern-Pfingstrose im Vordergrund oder dem Lattenzaun im Hintergrund die räumliche Wirkung in dem eng gehaltenen Bildausschnitt an. Die Hauptrolle des farbprächtigen Ölbildes spielt augenscheinlich seine ausdruckstarke Malerei selbst.

Emil Nolde (1867–1956)

Lesende Dame, 1906

Der Blumengarten von Alsen

Die "Lesende Dame" entstand wahrscheinlich im Sommer 1906 auf der dänischen Ostseeinsel Alsen, als Emil Nolde seine ersten Blumen- und Gartenbilder zu malen begann. Während er in den Wintermonaten im trubeligen Berlin verweilte, verbrachte er seit 1903 die Sommermonate auf der ländlichen Ostseeinsel. Angeregt von der prächtigen wie ungezähmten Gartenbepflanzung schöpfte er mit kräftigen, pastosen Pinselstrichen und satten Farbtönen aus dem Vollen, um die Kraft der Natur nachzuempfinden. Als der 'Brücke'-Künstler Karl Schmidt-Rottluff das Ehepaar Nolde 1906 auf Alsen besuchte, war Nolde bereits Mitglied der Künstlergruppe. Die gemeinsamen Sommermonate im dänischen Idyll entpuppten sich rückblickend als künstlerisch besonders fruchtbar. Die damals entstandenen Werke zeugen von einer inspirierenden Schaffensphase.

Emil Nolde (1867–1956)

Lesende Dame, 1906

Nolde und die Künstlergruppe 'Brücke'

1906 sahen die Gründungsmitglieder der Künstlergruppe 'Brücke' (Fritz Bleyl, Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff) Gemälde und Druckgrafiken Noldes in der Dresdener Galerie Ernst Arnold. Nur einen Monat später baten sie den wesentlich älteren Künstler, Mitglied der Vereinigung zu werden. Schon bald gewann die junge Vereinigung weitere aktive und passive Mitglieder, Kunstsammler und Galeristen für sich. Mithilfe ihrer stetig wachsenden Kontakte gelang es den Brücke-Künstlern, ihre Werke in zahlreichen Gruppen- und Einzelausstellungen u.a. in Hamburg und Berlin zu präsentieren und zu verkaufen. In dieser Zeit entstanden etliche seiner Werke. Noldes Mitgliedschaft in der Künstlergruppe währte allerdings nur von Februar 1906 bis November 1907. Doch die Wege der Brücke-Maler kreuzten sich mit denen Noldes auch nach seinem Austritt immer wieder.

Emil Nolde (1867–1956)

Lesende Dame, 1906

Die norddeutsche Landschaft

Emil Nolde wurde 1867 als Hans Emil Hansen in dem Dorf Nolde bei Tondern in Nordschleswig geboren. Obwohl er auf der Suche nach Inspiration und Anerkennung West- und Südeuropa sowie Papua-Neuguinea in der Südsee bereiste, zog es den Künstler immer wieder zurück in das deutsch-dänische Grenzgebiet, in dem sich auch die Ostseeinsel Alsen befindet. 1926 zogen Emil und Ada Nolde in die Nähe von Niebüll und kauften die Warft von Seebüll mit einem Hof. Nach seinem Tod 1956 wurde sein ehemaliges Wohn- und Atelierhaus zum Museum der Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde.

Emil Nolde (1867–1956)

Lesende Dame, 1906

Nolde und die Kunsthalle zu Kiel

Mit 134 Werken (126 Werke auf Papier sowie 8 Gemälde) repräsentiert die Kunst Emil Noldes einen bedeutenden Sammlungsschwerpunkt der Kunsthalle zu Kiel. Das ist nicht verwunderlich, da die Region seiner Heimat nördlich von Kiel ihm immer wieder als Bildmotiv diente. Für eine Kunstsammlung, die sich zum Ziel setzt, Zeitgenössisches mit einem regionalen Schwerpunkt zu sammeln, erscheint Noldes Kunst Anfang des 20. Jahrhunderts als besonders geeignet. Ada Nolde kümmerte sich um den gesamten Schriftverkehr und warb erfolgreich für die Kunst ihres Ehemannes. Bereits 1906 fand eine erste Einzelausstellung Noldes in der Kunsthalle zu Kiel statt. Bis heute erweisen sich seine Werke in Sonderausstellungen und Sammlungspräsentationen als Publikumsmagnet.

Emil Nolde (1867–1956)

Lesende Dame, 1906

Eine kontroverse Künstlerpersönlichkeit

Emil Nolde zählt zu den kontroversesten deutschen Künstlern des 20. Jahrhunderts. Sein mehrere Jahrzehnte umfassendes Werk gilt unbestritten als herausragend. Sein enthusiastisches Verhältnis zum Nationalsozialismus hingegen wird in jüngerer und jüngster Zeit kritisch untersucht. Dabei offenbarten diese Forschungen seinen Antisemitismus und Rassismus sowie sein strategisches Taktieren mit dem NS-Regime. Nolde war glühender Verehrer der menschenverachtenden Nazi-Ideologie. So blieb der Künstler bis zuletzt Parteimitglied der NSDAP, obwohl das Nazi-Regime auch seine Werke als „entartet“ eingestuft und aus öffentlichen Museen hatte entfernen lassen. Nach dem Krieg wiederum verschwieg er die eigene Gefolgschaft zum NS-Regime und stilisierte sich als Opfer der nationalsozialistischen Kulturpolitik, dessen Werke die Hitler-Faschisten als „entartet“ verunglimpft hatten.