Öl auf Leinwand
77 x 100 cm
Copyright am Werk: Kunsthalle zu Kiel
Copyright Foto: Kunsthalle zu Kiel
Foto: Martin Frommhagen
Die Unbekannte, ca. 1883
Eine selbstbewusste Pose
Mit fesselndem Blick und stolzer Haltung schaut die Unbekannte scheinbar auf ihr Gegenüber hinab. Ganz schön mutig für eine junge Dame im 19. Jahrhundert, welch ein herausfordernder Ausdruck! Iwan Kramskoj provoziert diese Wirkung bewusst durch die Darstellung in leichter Untersicht: Die anonyme Frau sitzt erhöht in einer offenen Kalesche. Während die dunkle Bekleidung mit ihrer fein ausgearbeiteten Stofflichkeit hervortritt, wirken die schneebedeckten Gebäude im Hintergrund wie eine schemenhafte Kulisse für die intensive Blickbeziehung mit der Unbekannten. Bei dem in diesiges Winterlicht getauchten Gebäude handelt es sich um das Anitschkow-Palais in Sankt Petersburg.
Die Unbekannte, ca. 1883
Geheimnisvolle Unbekannte
Eine junge Frau ist in einen edlen pelzbesetzten Mantel gehüllt, trägt ein Barett mit Straußenfeder, feine Lederhandschuhe und einen wärmenden Muff aus Pelz. Die Identität der Dargestellten bietet seit der Entstehung des Gemäldes Anlass für Spekulationen und bleibt bis heute rätselhaft. Die individuellen Gesichtszüge ähneln sehr Baronin Warwara von Üxküll Gyldenbandt (1850 - 1929), die von seinem Künstlerkollegen Ilja Repin porträtiert wurde. Andererseits legt die vermutete Herkunft des Gemäldes aus der Sammlung Leo Tolstojs nahe, dass Iwan Kramskoj dessen berühmte Romanfigur Anna Karenina und damit den Typus der modernen Großstadtfrau darstellte. Zu Lebzeiten des Künstlers hielt man die junge Frau mit dem provozierenden Blick noch für eine Dame der eleganten, jedoch moralisch als anrüchig geltenden Gesellschaftskreise der Demi Monde.
Die Unbekannte, ca. 1883
Der Porträtmaler
Frühzeitig richtete Kramskoj den Fokus auf die Porträtmalerei: Schon an der Akademie der bildenden Künste in Sankt Petersburg porträtierte er seine Kommilitonen und auch nach seinem Rauswurf aus der Akademie, als er unabhängig vom akademischen Stil malen und als Zeichenlehrer arbeiten konnte, galt diesem Genre sein größtes Interesse. Wohlwollende Unterstützung bekam der aus ärmlichen, kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Kramskoj von dem Kaufmann und Kunstsammler Pawel Tretjakow. Dessen finanzielle Zuwendungen ermöglichten dem Künstler zahlreiche Bildnisse von führenden liberalen Intellektuellen Russlands zu malen, insbesondere von Literaten wie Leo Tolstoj, Nikolai Alexejewitsch Nekrassow und Michail Saltykow Schtschedrin.
Die Unbekannte, ca. 1883
Bekanntschaft mit Leo Tolstoj
Kramskoj begegnete dem Schriftsteller Leo Tolstoj im Sommer 1893, als er sich nahe Kozlovka-Zaseka in Tula Gubernia und damit unweit von Tolstojs Landgut aufhielt. Nach anfänglicher Ablehnung konnte er den berühmten Literaten überzeugen, zwei Porträts von ihm zu malen. Kramskoj war beeindruckt vom Charakter und der Kultiviertheit des Schriftstellers. Auch Tolstoj lobte Kramskojs Malerei und nahm diesen zum Vorbild für die Künstlerfigur Mikhailov in seinem Roman Anna Karenina.
Die Unbekannte, ca. 1883
Peredwischniki - Wandermaler
Im 19. Jahrhundert schlossen sich einige Maler des Realismus zu den Peredwischniki, den sogenannten Wandermalern, zusammen. Sie wollten eine nationale Kunst fördern, welche die soziale Wirklichkeit im Russischen Kaiserreich unverfälscht widerspiegelt. Aufgrund ihres humanistischen Weltbildes lehnten die Mitglieder der Peredwischniki die absolutistische Herrschaft ab. Um die Kunst zu demokratisieren, organisierten sie auch außerhalb der großen Metropolen Wanderausstellungen in Provinzstädten, die für ein ländlich lebendes Publikum erreichbar waren. In Porträts, Interieurs, Alltagsszenen und Landschaftsbildern widmeten sie sich der Lebenswirklichkeit der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten.
Die Unbekannte, ca. 1883
Vom Studentenaufstand zur Künstlerbewegung
Dem Zusammenschluss ging 1863 der sogenannte Aufstand der Vierzehn voraus. Kramskoj und weitere Studenten der Kunstakademie in Sankt Petersburg widersetzten sich dem akademischen Kunststil und schlossen sich stattdessen zum St. Petersburger Künstlerartel zusammen. 1870 wurde mit der Gründung der Genossenschaft der künstlerischen Wanderausstellungen durch Mitglieder des Künstlerartels schließlich die Bewegung der Wandermaler geboren. Kramskoj war ihr Mitbegründer und eine zentrale Figur. Das Bündnis wendete sich nicht nur von veralteten Traditionen ab. Es stärkte auch die geistige und künstlerische Vielfalt der realistischen Malerei, deren Vertreter ihre eigenen Schwerpunkte in Inhalt und Gattung frei wählen konnten.
Die Unbekannte, ca. 1883
Ungeklärte Herkunft
Das Gemälde ist Gegenstand der
Provenienz-Forschung der Kunsthalle zu Kiel. Dieses Forschungsgebiet untersucht systematisch
Herkunft und etwaige Ankaufswege bestimmter Kunstwerke, um an der Aufklärung der
unrechtmäßigen Entziehung von Kulturgütern infolge der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft und des Zweiten Weltkriegs mitzuwirken.
1986 erwarb die Kunsthalle zu Kiel das Gemälde aus der Erbengemeinschaft der Sammlung Georg
Schäfer in Schweinfurt. Georg Schäfer erwarb das Gemälde seinerseits 1963 vom Münchener
Kunstversteigerungshaus Adolf Weinmüller. Darüber hinaus ist – unbestätigt – überliefert,
dass es spätestens 1910 in die Sammlung Leo Tolstojs gelangte. Da insbesondere der Verbleib
im Zeitraum von 1933 bis 1945 unbekannt bleibt, kann ein NS-verfolgungsbedingter Entzug oder
eine kriegsbedingte Verlagerung nicht ausgeschlossen werden. In der Lost Art-Datenbank des
Deutschen Zentrums Kulturgutverluste ist das Werk daher als bedenklich gekennzeichnet.
Die Unbekannte, ca. 1883
Der prächtige Zwilling
1925 erwarb die Tretjakow-Galerie in Moskau eine weitere, fast identische Fassung des Bildnisses. Das Gemälde im russischen Besitz ist wie die Kieler Fassung auf das Jahr 1883 datiert, jedoch noch feiner ausgearbeitet und hat etwas kleinere Bildmasse. Der Gründer der Tretjakow-Galerie, der Kaufmann und Kunstsammler Pawel Michailowitsch Tretjakow, lehnte zu seinen Lebzeiten (1832–1898) den Ankauf des Gemäldes noch ab. Er hatte Bedenken, dass die Anrüchigkeit des Motivs der Gesellschaft übel aufstoßen und dem Ruf des Sammlers schaden könnte. Diese Befürchtung spielte etwa hundert Jahre später zum Zeitpunkt des Ankaufs des Zwillingsgemäldes durch die Kunsthalle zu Kiel keine Rolle mehr.