Mischtechnik auf Leinwand auf Holz
40 x 53 cm
Copyright Werk: VG Bild-Kunst, Bonn 2020
Copyright Foto: Klaus E. Göltz
Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze II, 1965
Eine Allegorie
Das Zentrum des Bildes dominiert die marionetten-, ja mumienhafte Figur des Richters. Sie ist gegenüber dem übrigen Personal der Darstellung deutlich größer ausgeführt. Es handelt sich, dem Namen im Titel zum Trotz, nicht um das Abbild einer realen Person, sondern um eine Allegorie auf den Justizapparat und die obersten Richter des „Dritten Reichs“. Die blutrote Farbe der Robe und des Baretts entspricht genau der Farbigkeit der Roben der Richter des von den Nationalsozialisten 1934 eingerichteten Volksgerichtshofs.
Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze II, 1965
Gedanken und Erinnerungen
Die überdimensionale Figur des Richters ist Dreh- und Angelpunkt des gesamten Bildgeschehens, welches seine Gedanken und Erinnerungen visualisiert. Der Richter taucht auch ein zweites Mal auf, beim gnadenlosen Verhör eines Angeklagten, der halb entblößt vor ihm steht. An der Seite der antikisierten Richterbank prangt der nationalsozialistische Reichsadler.
Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze II, 1965
Bürgerliche Scheinmoral
Ist es eine Seifenblase oder eine Glaskugel? Darin ist die verlogene Welt bürgerlicher Scheinmoral zu sehen: ein biederes Paar prostet einander zu, doch derselbe blonde Mann scheint rechts davor einen anderen zu würgen. Unter dem mit Delikatessen gedeckten Tisch versteckt sich ein Mann, gehüllt in einen Militärmantel. Ein Kriegsversehrter? Ein Deserteur? Oder einfach ein traumatisierter Überlebender? Für ihn ist in der scheinbar so ordentlichen, bürgerlichen Welt kein Platz.
Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze II, 1965
Krieger mit Schild
Als Sinnbild für alle geschundenen, gequälten, gefolterten und ermordeten Menschen hat Tübke das Werk eines westlichen Bildhauers aufgenommen: die Bronzefigur „Warrior with Shield“ von Henry Moore aus dem Jahr 1953/54.
Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze II, 1965
Seelische Abgründe
Eine Frau mit einem riesigen Schmetterling am Kopf präsentiert verführerisch einen Granatapfel. Eine überdimensionierte Libelle ziert eine zweite verlockende Schönheit – allesamt aufgeladene Symbole für Verführung und Wankelmut sowie Vergänglichkeit. In der Wiege zu Füßen der Richterfigur liegt statt eines Kindes eine zischelnde Schlange: die Zukunft, eine Schlangenbrut! Ein Goldfasan stolziert zu einer venusgleichen, nackten Frau – er steht für Eitelkeit und Wollust. Die symbolbesetzten Tiere erinnern an Gemälde Hieronymus Boschs (um 1450 – 1516) und verkörpern Abgründe der menschlichen Seele.
Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze II, 1965
Zeit des Todes
Auf der linken Bildhälfte thematisiert Tübke die Schrecken des NS-Regimes. Eine Gruppe von sechs Wehrmachtssoldaten treibt hier ihr Unwesen, angeführt von einem General hoch zu Ross. Er wirft einen Totenkopf in die Waagschale des über ihm schwebenden Engels: der Tod wiegt in diesen Zeiten schwerer als die Taube, Symboltier des Friedens.
Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze II, 1965
Keine Hoffnung
Umgeben ist die Gruppe der Wehrmachtssoldaten von Gehängten, Gefolterten und angstvoll auf dem Boden kauernden Männern und Frauen. Der Rosenkranz hat ausgedient und hängt wie zum Hohn nutzlos an einem dünnen Ast des Baumes. Die Kirche als Institution hat vor der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten kapituliert. Hoffnung für die gequälten Seelen gibt es in dieser Hölle auf Erden nicht.
Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze II, 1965
Nationalsozialistische Gräuel
Auf einem Treppenpodest steht ein halbbekleideter älterer Mann mit einer Schlinge um den Hals, deren Seil über den Ast eines abgestorbenen Baumes gelegt und von einem Wehrmachtssoldaten festgezogen wird. Es ist der Hinrichtungsplatz, auf den vom oberen Ende des Baumstamms Unheil verkündend ein Rabe herabschaut. Im Hintergrund ist ein Wachturm zu sehen, wie er auch in NS-Konzentrationslagern zu finden war.
Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze II, 1965
Religiöse Motive
Die Komposition der Hinrichtungsszene erinnert an Darstellungen der Kreuzigung Christi – die Figuren links und rechts zitieren diese deutlich: die auf dem Boden sitzende betende Frau mit dem gelbgrünen Tuch über Kopf und Schultern erinnert an Maria, die Frau mit der Libelle übernimmt die sonst bei Kreuzigungsszenen übliche Position des Johannes. Ins Weltliche übertragen, stirbt der zum Hängen vorbereitete Mann den Tod der Menschheit.
Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze II, 1965
Todbringer
In der Ikonografie der Kreuzigungsdarstellung entspräche der reitende General kompositorisch dem römischen Hauptmann Longinus, der Jesus nach seinem Kreuzestod den Speer in die Seite gestoßen haben soll. Ins Weltliche gewandelt, bringt er den Tod. Deshalb ist auch die auf der untersten Treppenstufe des Podests stehende Kerze gerade verloschen.
Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze II, 1965
Bedrohlicher Rauch
Die eigenartig steril wirkende Stadt im Hintergrund trägt antikisierende Züge und erinnert an die Stadtdarstellungen Giorgio de Chiricos (1888 – 1978). Der Eindruck von Klarheit und Harmonie wird getrübt durch den brennenden Rundbau, der in der Literatur oft als Synagoge bezeichnet wird, obwohl das auf der Kuppel prangende Symbol kein Davidstern ist. Der aus dem Gebäude aufsteigende Rauch hat den gesamten Himmel erfüllt und schwebt bedrohlich über der gesamten Szene: eine Erinnerung an die Massenvernichtungsaktionen der Nationalsozialisten.
Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze II, 1965
Auftrag von oben
Es ist das zweite Gemälde, das Tübke während seiner Auseinandersetzung mit den von ihm erfundenen „Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze“ malt. Hintergrund für seine Beschäftigung mit diesem Thema sind der Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem und die Frankfurter Auschwitz-Prozesse von 1963 bis 1965. Auch der Schauprozess der DDR gegen Hans Globke, Chef des Kanzleramts unter Adenauer, interessiert ihn: die unklare Rolle Globkes unter den Nationalsozialisten und seine reibungslose Eingliederung ins westdeutsche System – dafür verurteilt die DDR ihn in Abwesenheit zu lebenslangem Zuchthaus. Tübke begann seine Reihe der Lebenserinnerungen … zunächst im Selbstauftrag. Ende 1964 erhielt er von der Leipziger Bezirksleitung des Deutschen Kulturbundes den Auftrag, ein Gemälde zum Thema „Westdeutsche Justiz“ zu malen.
Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze II, 1965
Eigenes Konzept
Das Bild ist seinem Ursprung nach zutiefst mit dem Kalten Krieg zwischen Ost und West verbunden, wenngleich sich Tübke künstlerisch sehr schnell von dem eng gefassten Auftrag des Kulturbundes der DDR löste, die Bundesrepublik als Folgestaat des „Dritten Reichs“ darzustellen, in dem alle NS-Verwaltungseliten nicht ausgetauscht wurden.
Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze II, 1965
Eigener Kopf
Mit seiner ihm eigenen Stilistik, entwickelt aus Elementen der Renaissance, des Manierismus, des Barock und des Surrealismus, und seiner allegorischen Bildsprache entspricht Tübke in keiner Weise den Forderungen der DDR-Kulturfunktionäre – weder formal noch inhaltlich. Dies führt immer wieder zu heftigen Anfeindungen des Malers, die 1968 in der Entlassung aus seinem Lehramt an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst gipfeln sollen. Doch die Studierenden stellen sich vor ihn, sie protestieren heftig und erreichen, dass er bleiben darf.
Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze II, 1965
Frisch ins Museum
Das Werk „Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze II“ erwirbt das hallesche Kunstmuseum noch im Jahr seiner Entstehung aus dem Atelier des Künstlers in Leipzig. Die anderen Fassungen der Gemäldeserie befinden sich u. a. in der Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin, im Museum der bildenden Künste in Leipzig und im Panorama Museum in Bad Frankenhausen.