Öl und Collage auf Hartfaser
45 x 54 cm
Copyright Werk: VG Bild-Kunst, Bonn 2020
Copyright Foto: Punctum/Bertram Kober
Stillleben mit Brille, 1962
Karriere in der DDR
Sitte lehnt viele Jahre die kulturpolitischen Vorgaben der SED-Regierung ab, er wird als „Formalist“ diffamiert. Andererseits ist er ab den 1970er Jahren einer der international am meisten ausgestellten Künstler des Staates. Er macht Karriere: 1974 – 88 Präsident des Verbands Bildender Künstler der DDR, ab 1976 Mitglied der Volkskammer der DDR sowie ab 1986 Mitglied des Zentralkomitees der SED. Ein hundertprozentiger Staatskünstler wird er allerdings nie, wenn – dann auf inhaltlicher Ebene. Stilistisch sucht er bis in die 1970er Jahre nach eigenen Ausdrucksformen.
Stillleben mit Brille, 1962
Malerei der Moderne
Das Stillleben wirkt auf den ersten Blick untypisch: Malt hier der später regelkonformere Staatskünstler? Deutlich sind Einflüsse von prägenden Künstlern der Moderne wie Pablo Picasso und Fernand Léger zu spüren. In der Tat beschäftigt sich der Künstler mit der Malerei der Moderne, nachdem er sich 1947 in Halle (Saale) niedergelassen hat. Dafür wird er immer wieder heftig angegriffen und als „westlich dekadent“ und „Formalist“ diffamiert. Anfang der 1960er Jahre arbeitet er zudem intensiv mit der Technik der Collage und integriert Zeitungsausschnitte, wie hier aus einer zwei Jahre alten Ausgabe der halleschen Lokalzeitung „Freiheit“ von 1961.
Stillleben mit Brille, 1962
Widerspruch zum System
Die gesamte formale Gestaltung des Stilllebens ist ein Affront gegen die Forderungen des Sozialistischen Realismus. Das Konzept einer system-affirmativen realistischen Kunst als offizielle Staatskunst wurde nach 1945 in der Sowjetischen Besatzungszone und ab 1949 in der aus ihr hervorgegangenen DDR staatstragend. Die künstlerischen Produktionen im Land, nicht nur bildkünstlerische Werke, sollten mit abbildhaften, realistischen Stilmitteln die Gegenwart spiegeln und positiv den Aufbau der neuen Gesellschaft unterstützen.
Stillleben mit Brille, 1962
Spiel mit Farbe
Nach 1945 wird Willi Sitte immer wieder aufgrund seiner künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Moderne und Künstlerinnen und Künstlern des westlichen Europas angegriffen. Nicht nur die in diesem Bild genutzte Technik des Collagierens gehört in diesen Kontext, sondern auch die malerischen Elemente. Betrachtet man die Malerei rund um die Zeitungscollage fällt auf, dass es weitestgehend monochrome, rein malerisch begriffene, für sich genommen ganz abstrakte Farbflächen sind. Sie sind „Peinture“ im klassischen französischen Sinn – ein Spiel mit Farbe, Form und Fläche – und damit alles andere als das staatliche Geforderte.
Stillleben mit Brille, 1962
Nur scheinbar harmlos
Neben den non-konformen malerischen Elementen birgt das vermeintlich harmlose Stillleben auch politischen Zündstoff: In der collagierten Zeitung finden sich die Namen Willy Maertens, damals Intendant des Thalia Theaters in Hamburg, und Gotthard Müller, Oberspielleiter des Schauspiel Leipzig. Letzterer wendet sich hier in einem offenen Brief an Maertens. Es geht um eine Kontroverse darüber, ob Kunst politisch engagiert sein sollte. Weiter unten ist zudem der Name des Kulturministers der DDR, Hans Bentzien, zu lesen. Sitte bildet hier subtil den Kulturkampf zwischen Ost und West in Zeiten des Kalten Krieges ab.
Stillleben mit Brille, 1962
Zündstoff im Zeitungsartikel
Für Willy Maertens, von 1945 bis 1964 Intendant des Thalia Theaters in Hamburg, darf Kunst damals nicht politisch sein: „Um zu verhindern, daß (sic) Kunstwerke auf der politischen Ebene diskutiert werden, halte ich es bei der augenblicklichen politischen Situation nicht für angebracht, Stücke von Brecht aufzuführen.“ Gotthard Müller vom Schauspiel Leipzig fordert in seinem offenen Brief dagegen, dass Kunst unbedingt politisch sein sollte. Er argumentiert, dass man nicht wie „viele Künstler nach 1933“ den Fehler machen dürfe, den „Weg des Zurückweichens und der […] bedingungslosen Kapitulation“ zu gehen. Ihm geht es um eine kritisch-dialektische Auseinandersetzung mit den Problemen der sozialistischen Gesellschaft.
Stillleben mit Brille, 1962
Subtile Kritik
Unter Walter Ulbricht, seit 1960 Vorsitzender des Staatsrats der DDR, nehmen die Repressionen auf dem Gebiet der Kultur zu. Eine sozialistische Staatskultur soll mit Macht durchgesetzt werden. Der Name des Kulturministers der DDR, Hans Bentzien, steht für die Restriktionen, unter denen Kulturschaffende zu leiden haben. In einem weiteren Artikel ist der Name von Ludwig Rosenberg zu lesen, des damaligen stellvertretenden Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Es geht um Auftritte von Bühnenkünstlerinnen und -künstlern im jeweils anderen Land, die der DGB 1961 seinen westdeutschen Mitgliedern nicht empfiehlt. Die DDR spricht daraufhin vom „Bonner Kulturboykott“. Sitte bildet durch kleine Details das kulturpolitische Machtspiel zwischen Ost und West ab – in einem vermeintlich harmlosen Stillleben.
Stillleben mit Brille, 1962
Zorn der Partei
Wie eine schwarze Sonne ragt von oben ein angeschnittener, dunkler Kreis in das Bild hinein. Nichts Gutes verheißend schwebt er über den collagierten Zeitungsartikeln, die den deutsch-deutschen Kulturkampf dokumentieren. Auf den Zeitungen liegt eine Brille – möglicherweise die Brille des Malers, der über das gerade Gelesene nachdenkt. Welchen Weg soll er gehen, den der Moderne oder den des geforderten parteikonformen Staatskünstlers? Dass es einen Mittelweg, den der Kritik an den bestehenden Verhältnissen und das Suchen nach neuen Ausdrucksformen geben könnte, ist zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeschlossen.
Stillleben mit Brille, 1962
Aus der Traum
„Unsere Feinde“, „Adenauer und Brandt“, „Bonner Militaristen“ – Das Zeitungsstatement über dem offenen Brief Gotthard Müllers dokumentiert unmissverständlich die DDR-Propaganda in Zeiten des Kalten Kriegs – festgehalten in einem künstlerisch non-konformen Stillleben Willi Sittes. Der Künstler sieht sich 1962, im Entstehungsjahr des Bildes, massiven Anfeindungen von Seiten der Staatspartei SED ausgesetzt. Es gibt ein Parteiverfahren gegen ihn und er muss öffentlich Selbstkritik üben. Der Traum vom Aufbruch in die Moderne innerhalb eines kritikfähigen sozialistischen Systems – er muss ihn aufgeben.
Stillleben mit Brille, 1962
Einzigartig
Sittes Stilleben holt der damalige Direktor des halleschen Kunstmuseums schon 1964, ein Jahr nach seiner Entstehung, in die Sammlung. Seit 2018 gibt es einen eigenen Ausstellungsbereich „Kunst in der SBZ/DDR zwischen 1945 und 1990“. Er ist Teil der permanenten Sammlungspräsentation „Wege der Moderne. Kunst in Deutschland im 20. Jahrhundert“. Damit ist das Museum das erste und einzige, das derzeit über einen eigenen dauerhaft zugänglichen Ausstellungsbereich zur Kunst in der DDR verfügt. Gezeigt werden mit Werken von Willi Sitte oder Willi Neubert Beispiele sogenannter „Staatskunst“ wie auch alle Facetten der möglichen Kunstformen, von expressiver Kunst über abstrakte Werke bis hin zu Vertretern der Pop Art oder einer kritischen realistischen Malerei.