Weim Henryvandevelde Wintersonne Minimum

Henry van de Velde (1863 - 1871)

Wintersonne, 1892

Zerlegte Farben

1887 wird auf dem IV. Salon der belgischen Avantgardegruppe Les XX das monumentale Bild des französischen Künstlers Georges Seurat „La Grande Jatte“ gezeigt. Dieses Manifestbild des Neoimpressionismus löste eine Schockwirkung aus und brachte viele Künstler dazu, dieser neuen Bewegung zu folgen. Auch van de Velde sah „La Grande Jatte“ und übernahm unmittelbar darauf die fundamentalen Theorien und Prinzipien der neuen Maltechnik, die auf den neuesten physikalischen Erkenntnissen beruhten. Dazu gehörten das grundlegende Prinzip der Farbzerlegung, wonach auf die traditionelle Mischung der Farbpigmente auf der Palette verzichtet wird zugunsten der optischen Farbmischung, die sich nur noch im Auge des Betrachters vollzieht.

Henry van de Velde (1863 - 1871)

Wintersonne, 1892

Flirrendes Winterlicht

Die Suggestion von farbigem Licht sollte durch das systematische Nebeneinandersetzen winziger, regelmäßiger Pinseltupfer (pointillé) in komplementären Kontrastfarben (rot-grün, orange-blau, gelb-violett) erzielt werden. Van de Velde übertrug diese neue Technik auf seine eigene Motivwelt, die sich in Anlehnung an die Schule von Barbizon auf Darstellungen des bäuerlichen Lebens im Wechsel der Jahreszeiten konzentrierte. In der „Winterlandschaft“ verwendet er statt der Punkte aus reinen Farben kurze, bewegte Farbstriche, mit denen das Weiß des Schnees und das Grau-Blau des bewölkten Himmels in eine subtile, vielfarbige Lichterscheinung verwandelt wird.

Henry van de Velde (1863 - 1871)

Wintersonne, 1892

Vom Maler zum Designer

In nur wenigen Jahren durchläuft van de Velde eine rasante malerische Entwicklung und wird als eines der auffälligsten jungen Talente in Belgien anerkannt. So steht er zweifellos am Anfang einer vielversprechenden Karriere als Maler, als er im November 1888 in den exklusiven Kreis der Brüsseler Gruppe Les XX aufgenommen wird. Auch durch seine rasche Beherrschung des Neoimpressionismus setzt er sich an die Spitze einer neuen malerischen Bewegung. Dennoch läßt auch diese neue künstlerische Ausdrucksform van de Velde letztlich unbefriedigt und er entscheidet, sich der „sozialen Kunst“ als Teil einer angestrebten Verbesserung der gesellschaftlichen Bedingungen zuzuwenden. Schon 1892, also im Entstehungsjahr der „Wintersonne“, stellte er im IX. Salon der XX auch einen Textilentwurf aus, der erstmals auf sein neues Interesse am Kunstgewerbe hinwies.

Henry van de Velde (1863 - 1871)

Wintersonne, 1892

Zwischen den Stilen

Der Anblick der ersten Bilder Vincent van Goghs, die 1890 und 1891 in Brüssel zu sehen waren, hatte unmittelbare Folgen für Van de Velde. Tief beeindruckt von van Goghs dynamisch-expressiver Pinselführung, mit der dieser seine visionären Landschaften ausführte, sah sich der belgische Künstler fortan zwischen zwei gegensätzlichen malerischen Richtungen hin- und hergerissen. In diesem Sinne stellt das im Winter 1891/92 vollendete Gemälde eine Verschmelzung von Seurats Farbzerlegung mit van Goghs emotional geladener Pinselhandschrift dar. Ausgehend von dem zum linken Bildrand verrückten Zentrum der kreisenden Sonnenscheibe bilden seine kurzen Pinselstriche einen einzigen Linienfluss, der im Sinne van Goghs die Kräfte und Energien der Natur symbolisch zum Ausdruck bringt.