Öl auf Leinwand
135,7 x 144,5 cm
© Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Pinakothek der Moderne München / Foto: Haydar
Koyupinar
Tirol, 1914
Kristallines Alpenpanorama
Gipfelketten bestimmen spitz zulaufend und in mehreren Reihen hintereinander angeordnet die Komposition dieses Bildes. Geprägt vom Fortschrittsglauben des Futurismus und Kubismus setzt Marc kontrastreich leuchtende Farben ein und spaltet die Berge in einzelne Farbflächen auf. So changiert die Naturkulisse des Alpenpanoramas zwischen Erhabenheit und Bedrohung. Das Motiv der alpinen Bergwelt geht auf eine einwöchige Südtirol-Reise des Malers im März 1913 zurück. Sein schwer erkrankter Schwiegervater Philipp Franck lud seine Tochter und den Künstler ein, ihn in einem Meraner Sanatorium zu besuchen.
Tirol, 1914
Häuser auf schwankendem Boden
Die Berglandschaft wirkt durch die Abwesenheit von Mensch und Tier seltsam lebensfeindlich. Inmitten der monumentalen Komposition erkennt man als Zeichen menschlicher Präsenz nur eine kleine weiße Kapelle und zwei angedeutete Höfe am unteren Rand des Bildes. Marc verdeutlicht hier die Unbedeutsamkeit des Einzelnen gegenüber dem unausweichlichen Schauspiel der Apokalypse.
Tirol, 1914
Kampf von Licht und Finsternis
Die Sonne scheint rot glühend auf der rechten Bildhälfte, während paradoxerweise auf der lichtdurchfluteten linken Bildhälfte die Sterne funkeln. Eine realistische Naturdarstellung wird im Sinne des Expressionismus zugunsten der emotionalen Wirkung abstrahiert. Die Zweiteilung erinnert an typische Darstellungen des Jüngsten Gerichts. Laut der biblischen Offenbarung des Johannes kommt es hierbei auch zur Verdunklung der Sonne – Franz Marc stellt diese in der Mitte des Bildes als Korona einer Sonnenfinsternis dar.
Tirol, 1914
Bedrohliche Symbolik
Ein riesiger kahler, schwarzer Baumstamm schiebt sich in das Bild. Verfolgt man den Verlauf bis an seine Spitze, so erkennt man die Andeutung einer sichelförmigen Klinge, die ihn zur Sense werden lässt. Im Gesamtkontext des Bildes verweist die Sense auf die göttliche „Ernte“ des Jüngsten Tages – sie kann allerdings auch als Symbol des Todes und somit als Vorahnung an das nahende Grauen eines euphorisch erwarteten Krieges gelesen werden. Marc selbst wird schließlich zu Kriegsbeginn eingezogen und fällt 1916 mit 36 Jahren vor Verdun.
Tirol, 1914
Das apokalyptische Weib
Versteckt und schemenhaft angedeutet befindet sich im Zentrum die Figur einer Madonna. Man erkennt sie an der Bekleidung in den typischen Marienfarben Blau und Rot, dem Strahlenkranz um ihren Kopf und dem Jesuskind in ihren Armen. Die in grün gehaltene Mondsichel zu ihren Füßen zeichnet sie als „apokalyptisches Weib“ aus der Offenbarung des Johannes aus. Franz Marc ergänzte diese Madonnendarstellung erst im Nachhinein, um die symbolische Bedeutung des Gemäldes zu verstärken
Tirol, 1914
Prophetische Vision vom Untergang der alten Welt
Kurz vor dem Ausbruch des Krieges schafft Franz Marc 1913/14 sein expressionistisches Hauptwerk. Mit der Symbolik des Bildes „Tirol“ verbindet der Künstler die Hoffnung einer geistigen Erneuerung Europas, die sich allerdings als trügerisch erweisen sollte.