Öl auf Leinwand
100 x 100,6 cm
Foto: Herling/Herling/Werner, Sprengel Museum Hannover
Copyright Foto: Sprengel Museum Hannover
La Strada entra nella casa, 1911
Flirrende Eindrücke
Der Künstler beschreibt im Katalog zur Ausstellung in der Galerie Bernheim-Jeune im Jahr 1912 sein Anliegen so: „Wenn man eine Person auf dem Balkon (Innenansicht) malt, so begrenzen wir nicht die Szene auf das, was uns das schmale Fensterwerk zu sehen erlaubt, sondern wir bemühen uns, die Empfindungen des Auges der auf dem Balkon befindlichen Person in ihrer Gesamtheit zu geben: das sonnendurchflimmerte Gesumm der Straße, die beiden Häuserreihen, die sich zur Rechten und Linken entlang ziehen, die blumengeschmückten Balkons; das heißt: Gleichzeitigkeit der Atmosphären, folglich Ortsveränderung und Zergliederung der Gegenstände, Zerstreuung und Ineinanderübergehen der Einzelheiten, die von der laufenden Logik befreit, eine von der anderen unabhängig sind.“
La Strada entra nella casa, 1911
Eine Summe des Ganzen
„Um den Betrachter nach unserem Manifest in der Mitte des Bildes leben zu lassen, muss das Bild die Zusammenstellung all dessen sein, an das wir uns erinnern, und dessen, was wir sehen“, schreibt der Künstler weiter im Katalog zur Futuristen-Ausstellung in der Galerie Bernheim-Jeune 1912 in Paris. Sein Werk entsteht nach einem Parisaufenthalt im November des Jahres 1911 und fällt in eine sehr intensive Schaffensperiode des Künstlers.
La Strada entra nella casa, 1911
Die Straße bricht herein
Die Straße mit all ihren Sinneseindrücken bricht förmlich über die Frau herein, indem Formen, Lebewesen und Gegenstände unterschiedlicher Maßstäbe und Perspektive zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Es ist keine naturgetreue Wiedergabe des Geschehens, sondern sie scheint ganz von der Aufmerksamkeit der Betrachterin bestimmt. So versucht ein nicht lebensgroßes Pferd von der Straße über die Frauenfigur hinweg auf den Balkon zu gelangen. Ein weiteres ragt unten links ins Balkongitter hinein. Die Häuserreihen rechts und links neigen sich bedenklich und scheinen in die Bildmitte zu fallen, in der Bauarbeiter gerade ein Gerüst aufbauen.
La Strada entra nella casa, 1911
Aus den Fugen geraten
Das Leben in der Großstadt beginnt mit der zunehmenden Industrialisierung wortwörtlich aus den Fugen zu geraten, das versucht Boccioni abzubilden: Alle Gegenstände, Figuren, Lebewesen, Gesten und Haltungen scheinen zu schwingen, auf nichts ist Verlass, denn Größenverhältnisse, Formen und Perspektiven variiert der Künstler virtuos. Die simple Geste der Öffnung einer Balkontür steigert er dramatisch zu einem Reigen entfesselter Wahrnehmungen.
La Strada entra nella casa, 1911
Wie ein Schalltrichter
Das fast quadratische Format und die Konzentration auf das Geschehen in der Bildmitte, wo Bauarbeiter gerade eine riesige Grube ausheben und ein Gerüst aufbauen, lassen das Bild wie einen Schalltrichter wirken, aus dem der kreischende Lärm der Straße auf den Betrachter eindringt. Boccioni versucht mit der Konzeption dieses Bildes dem „modernen“ Betrachter eine fortschrittliche, spezifisch städtische Dimension zu erschließen, die der Dynamik des beginnenden 20. Jahrhunderts entsprechen soll. Das Gemälde zählt zu den wichtigsten Werken des Futurismus.